Es gibt ein Sizilien, das uralte Geschichten flüstert, die nicht auf Pergament, sondern in den lebendigen Felsen eingraviert sind, modelliert vom tausendjährigen Atem der Flüsse und bewacht im wilden Herzen der stolzen Berge. Der Madonie-Park, einevon der UNESCO anerkannte Schatzkammer der Artenvielfalt und der Geologie, lädt dazu ein, sich zu verlieren und einen ursprünglichen Kontakt zur Erde wiederzuentdecken. Hier, wo die Zeit in einem anderen Rhythmus zu fließen scheint, liegt eines der spektakulärsten und am wenigsten zur Schau gestellten Juwelen: die Tiberius-Schluchten. Ein Name, der an römische Kaiser und geheimnisvolle Tiefen erinnert, ein Ort, der ein Abenteuer verspricht, das weit über einen einfachen touristischen Ausflug hinausgeht.
Die Reise zu diesem Naturheiligtum beginnt oft in San Mauro Castelverde, einem Dorf, das an sich schon ein Vorspiel zum Staunen ist. San Mauro klammert sich hartnäckig an die Berghänge und bietet sich dem Auge mit der stillen Würde seiner alten Steine dar. Ein Spaziergang durch die gepflasterten Gassen ist ein Eintauchen in die Atmosphäre vergangener Zeiten; die mittelalterliche Burg, die noch immer über das Dorf wacht, bietet einen Blick, der von den bewaldeten Tälern bis zum tiefen Blau des Tyrrhenischen Meeres reicht, ein Horizont, der zum Nachdenken einlädt.
Die Majolikakacheln der San Mauro Abate geweihten Kirche schimmern in der sizilianischen Sonne mit irisierenden Reflexen, während das schlichte Portal der Kirche San Giorgio Martire von tief verwurzeltem Glauben und gekonnter Kunstfertigkeit zeugt. Für diejenigen, die sich nach einem adrenalingeladenen Prolog sehnen, bietet die moderne Seilbahn, die den Himmel der Stadt durchpflügt, einen Blick aus der Vogelperspektive auf dieses fruchtbare Land, bevor sie in sein Inneres eintauchen.
Der Fluss Pollina ist mit seiner flüssigen Zähigkeit der wahre Architekt der Schlucht. Seit Millionen von Jahren, seit der oberen Trias – einer geologischen Epoche, die uns mehr als zweihundert Millionen Jahre zurückführt – hat sein Wasser unermüdlich die imposanten Ufer aus hellem Kalkstein gegraben, gemeißelt und geglättet und dabei eine etwa vierhundert Meter lange Schlucht geschaffen. Ein natürlicher Korridor, der sich durch das Gebiet von San Mauro Castelverde, das edle Castelbuono und das malerische Pollina schlängelt, eine geologische Stätte von solcher Bedeutung, dass sie die Aufmerksamkeit und den Schutz des UNESCO Global Geoparks Network verdient hat.
Die Annäherung an die Schlucht ist bereits ein Teil des Erlebnisses. Wenn man die Provinzstraße 52 und dann die Provinzstraße SP60 entlangfährt, kommt man zu einer ausgeschilderten Kreuzung, dem „bivio Tiberio“. Von hier aus begleitet ein Shuttle-Service – ein wertvoller Verbündeter vor allem für den anstrengenden Aufstieg – die Besucher ein kurzes Stück bis zur „La Rocca“, dem Empfangsbereich. Hier kann man sich erfrischen und auf das Abenteuer vorbereiten: eine kleine Bar, in der man einige lokale Produkte probieren kann, ein Picknickplatz für diejenigen, die sich ein Picknick gönnen möchten, und alle notwendigen Annehmlichkeiten, bevor die eigentliche Erkundung beginnt, die idealerweise zwischen Frühling und Herbst stattfindet und in den Sommermonaten täglich geöffnet ist, während sie in den Übergangsmonaten auf die Wochenenden beschränkt ist. Es ist ratsam, eine Reservierung vorzunehmen, um sich die Führung durch lokale Experten zu sichern, die die Geheimnisse des Flusses lüften.
Wenn man die Schwelle der Tiberius-Schlucht überschreitet, betritt man eine andere Welt. Die hohen und imposanten Felswände erheben sich wie die Flügel eines Naturtheaters, manchmal so nah, dass man sie von beiden Seiten eines Schlauchbootes aus fast mit den Händen berühren kann. Das Sonnenlicht dringt kaum durch und erzeugt Hell-Dunkel-Spiele, smaragdgrüne Reflexe auf dem Wasser, eine schwebende, fast heilige Atmosphäre. Es herrscht eine tiefe Stille, die nur vom Plätschern der Ruder, dem Rinnsal des Wassers, das von den schlammigen Felsen tropft, und dem Gesang der Vögel, den wahren Bewohnern dieses Reichs, unterbrochen wird. Zwischen den Rissen im Stein, nur einen Hauch von der flüssigen Oberfläche entfernt, kann man mit Erstaunen die Nester von bunten Bienenfressern und eleganten gelben Tänzerinnen sehen, Zeugen eines noch intakten Ökosystems. Wenn man Glück hat, kann man sogar den majestätischen Flug des Steinadlers beobachten, der hier auf den unzugänglichen Bergrücken immer noch Zuflucht findet.
Die Felsen selbst sind wie Seiten aus einem alten Buch. Ein aufmerksames Auge kann die Fossilien von Gastropoden erkennen, Meerestiere, die diese Orte bewohnten, als das Meer vor Millionen von Jahren alles bedeckte. Die Wände der Schlucht sind ein Freiluftarchiv der geologischen Geschichte der Madonien, ein komplexes Mosaik, in dem Zeugnisse aus verschiedenen Epochen auftauchen. Sie erzählen von langsamen Sedimentationsprozessen und starken tektonischen Kräften.
Wenn man sich langsam über das ruhige Wasser bewegt, stößt man auf einen riesigen Felsblock, der den Durchgang teilweise versperrt. Die Einheimischen nennen ihn das alte Versteck der Räuber, einen Geheimgang, der es ihnen ermöglichte, in den Falten des Berges zu verschwinden, und der Legenden über verborgene Schätze und waghalsige Heldentaten nährt. Die zahlreichen Höhlen und Schluchten, die sich entlang des Canyons auftun, sind stille Komplizen dieser Geschichten, Wächter einer abenteuerlichen Vergangenheit. Und dann gibt es noch eine Stelle, die von einer noch geheimnisvolleren Faszination umwoben ist: „U miricu“, der Nabel, wie der lokale Dialekt ihn nennt. Es heißt, dass der Fluss genau an dieser Stelle eine Art Magnetkraft besitzt, die alles, was schwimmt, verschluckt und dann vielleicht wieder in das ferne Meer zurückführt. Es handelt sich um eine dieser Legenden, die die Landschaft mit Mysterien färben, eine Hommage an die unergründliche Kraft der Natur. Sogar der Name der Schlucht selbst, „Tiberius“, könnte ein Stück Geschichte verbergen, vielleicht im Zusammenhang mit einer antiken Villa aus der römischen Kaiserzeit, die sich in der Nähe befand und genau dem Nachfolger von Augustus gewidmet war.
Die Vegetation, die sich mit überraschender Hartnäckigkeit an die senkrechten Wände klammert, ist ein weiteres Schauspiel der Widerstandsfähigkeit: Wilde Feigen sprießen aus den kleinsten Ritzen und trotzen der Schwerkraft, während eine üppige, unberührte Flora von der Reinheit dieser geschützten Umgebung zeugt. Die Kühle im Inneren der Schlucht, die in angenehmem Kontrast zur Hitze der sizilianischen Sonne steht, ist eine körperliche Erleichterung, die das Gefühl, sich an einem abgeschiedenen und besonderen Ort zu befinden, noch verstärkt.
Das Erlebnis der Tiberio-Schlucht kann das Herzstück eines umfassenderen Ausflugs sein, bei dem auch die anderen Wunder der Madonien entdeckt werden. Nicht weit entfernt liegt Castelbuono, ein mittelalterliches Dorf, das mit seinem imposanten Schloss Ventimiglia verzaubert. Im Inneren ist die Palatin-Kapelle Sant’Anna ein barockes Stuckwerk des Meisters Giacomo Serpotta, in dem die Reliquie der Schutzpatronin aufbewahrt wird. Die Stadt bietet auch interessante Museen und die Süße des Manna, ein typisches Produkt der Eschenbäume. Höher gelegen, fast bis zum Himmel, bietet Pollina spektakuläre Ausblicke auf die Küste. Das Theater Pietra Rosa, ein in den Fels gehauenes Amphitheater unter freiem Himmel, ist eine unvergleichlich schöne Kulisse für kulturelle Veranstaltungen, während die ruhigen Straßen inmitten antiker Kirchen und malerischer Ausblicke zum langsamen Entdecken einladen.
Für diejenigen, die von der Küste aus starten, vielleicht vom berühmten Cefalù mit seiner normannischen Kathedrale und den goldenen Stränden, ist der Gole di Tiberio ein herrlicher Tagesausflug, ein Eintauchen in die wildeste Natur nur dreißig oder vierzig Autominuten entfernt. Es ist ratsam, sich bequem zu kleiden, einen Badeanzug und wasserfeste Schuhe zu tragen, sich umzuziehen und natürlich eine Kamera mitzunehmen, um den Zauber dieses Ortes so gut wie möglich einzufangen. Die technische Ausrüstung, wie Helme und Schwimmwesten, wird von den fachkundigen Führern, die die Floßfahrten begleiten, zur Verfügung gestellt.
Das Verlassen der Tiberiusschlucht ist wie der Abschied von einem lebhaften Traum. Die tiefe Stille, das Spiel des Lichts auf dem Wasser, das Echo der Legenden, die von der Brise und den Felsen geflüstert werden, bleiben in der Erinnerung haften. Es ist nicht nur ein Besuch, sondern ein stiller Dialog mit der Zeit, eine Begegnung mit der Urkraft der Natur, die hier, im Herzen Siziliens, ein Meisterwerk aus Stein und Wasser geschaffen hat, das eifersüchtig wie ein kostbares Geheimnis gehütet wird. Eine Erfahrung, die die Seele bereichert und das Staunen über die unendlichen Wunder unseres Planeten erneuert.