Rosalia, die Heilige, die Palermo rettete

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Palermo trägt sein heiligstes Gesicht nicht in Stein gemeißelt, sondern im Herzen seines Volkes. Dieses Gesicht gehört einer jungen Frau, die der Adelswelt den Rücken kehrte und die Stille einer Höhle dem Glanz des Hofes vorzog. Die Heilige Rosalia ist nicht nur die Schutzpatronin der Stadt, sie ist eine lebendige Präsenz, eine uralte Schwester, eine Gestalt, die in den Atem Palermos selbst eingeschrieben ist. Ihre Geschichte durchzieht die Jahrhunderte und wird jedes Jahr neu geboren, wenn die Stadt innehält, sich in Licht und Erinnerung kleidet und ihre Retterin in einem der kraftvollsten und innigsten Rituale des Mittelmeers feiert: dem Festino.

Rosalia, im 12. Jahrhundert als Tochter der Adelsfamilie Sinibaldi geboren, hätte ein Leben in Komfort und Ansehen führen können. Doch sie wählte einen anderen Weg. Sie trat zunächst in ein Kloster ein und zog sich später als Einsiedlerin in eine Höhle auf dem Monte Pellegrino zurück, hoch über dem Meer und der Stadt. Dort lebte sie in Gebet und Einsamkeit bis zu ihrem Tod. Über Jahrhunderte blieb ihr Name vergessen, kaum erwähnt in alten Heiligenkalendern und frommen Schriften. Erst in einem Moment tiefster Verzweiflung kehrte ihr Name in das Leben der Stadt zurück.

Im Jahr 1624 wurde Palermo von einer der schlimmsten Pestepidemien seiner Geschichte heimgesucht. Die Stadt, überfüllt und hygienisch vernachlässigt, versank im Elend. Inmitten dieser Not hatte ein Mann namens Vincenzo Bonelli einen Traum: Eine junge Frau erschien ihm und wies ihn auf eine Höhle auf dem Monte Pellegrino hin, in der ihre Gebeine ruhen sollten. Die Knochen wurden tatsächlich gefunden und als die der Rosalia identifiziert. Ihre Reliquien wurden durch die verseuchten Straßen getragen. Der Überlieferung zufolge hörte die Pest sofort auf. Ein Wunder, sagte man. Palermo hatte seine Heilige gefunden.

Ein Jahr später, im Juli 1625, wurde das erste Festino gefeiert. Es war nicht nur ein religiöses Ereignis, sondern ein großes städtisches Theater der Dankbarkeit und Wiedergeburt. Seitdem verwandelt sich Palermo jedes Jahr in der Nacht des 14. Juli in eine Bühne, auf der die Geschichte Rosalias und der Stadt selbst neu erzählt wird. Die Straßen füllen sich, Menschen drängen sich an den Fenstern, Kerzen brennen auf den Balkonen. Man singt, man weint, man ruft „Viva Palermo e Santa Rosalia!“. Die Stadt wird zu einem einzigen Körper – und Rosalia zu seinem Herz.

Der Festino ist kein Umzug, sondern ein lebendiges Erzählen. Der riesige Triumphwagen, jedes Jahr neu gestaltet, bewegt sich langsam über die historische Straße Cassaro, von Palazzo dei Normanni bis zur Porta Felice. An verschiedenen Stationen wird der Weg der Heiligen symbolisch dargestellt – die Pest, die Auffindung der Gebeine, die Erlösung der Stadt. Tausende begleiten den Wagen, betend oder schweigend, laut oder ergriffen. Die Nacht endet am Meer, mit einem großartigen Feuerwerk über dem Hafen, während die Statue der Heiligen über das Wasser blickt, als segne sie ihre Stadt erneut.

Doch die Verehrung Rosalias endet nicht mit diesem glanzvollen Abend. Es gibt einen zweiten, stilleren, aber ebenso bedeutungsvollen Tag: den 4. September, den Tag ihres Todes laut Überlieferung. An diesem Tag wird die silberne Urne mit ihren Reliquien durch die Straßen getragen. Es ist eine langsame, ernste Prozession. Keine Musik, kein Spektakel. Nur Schritte, Gebete, gesenkte Blicke. Viele gehen barfuß, manche tragen Fotos, Briefe, Votivgaben. Wenn der Juli laut feiert, dann spricht der September leise.

Im Zentrum des Kultes steht das Heiligtum auf dem Monte Pellegrino – dort, wo alles begann. Jedes Jahr steigen Tausende von Pilgern den steilen Weg zur Höhle hinauf, in der Rosalia gelebt und gestorben sein soll. Viele tun dies barfuß, als Akt der Buße. Das Innere der Höhle ist kühl und feucht, mit Wasser, das von den Wänden rinnt und als wundertätig gilt. Der Altar ist in den Fels geschlagen. Um ihn herum sammeln sich hunderte Votivgaben: Fotos, Schmuck, Kreuze, Krücken, Briefe. Man kommt nicht nur zum Beten, sondern zum Reden. Man vertraut sich ihr an. Sie hört zu.

Der Festino hat auch seine kulinarischen Zeichen. Die Straßen Palermos duften in diesen Tagen nach gebratenem Fleisch und süßem Teig. Es gibt babbaluci – kleine Schnecken mit Knoblauch und Petersilie –, ein Gericht, das die einfache Ausdauer des Volkes symbolisiert. Es gibt sfincione, eine dicke Pizza mit Zwiebeln und Sardellen, Panelle und Crocchè, Stigghiola vom Grill. Und zum Nachtisch: Cannoli, Wassermelonen-Gelee, Cassata, Zitronengranita. Die Feier geht durch den Magen – und das ist Teil des Rituals.

Heute ist Rosalia überall in Palermo: in Taxis, auf Fischerbooten, in Schaufenstern, als Tattoo auf der Haut. Sie ist öffentliches Symbol und private Zuflucht zugleich. Für die Palermitaner ist sie keine ferne Heilige, sondern eine Mutter, eine Schwester, eine Gefährtin im Leid. Ihr blondes Gesicht mit dem gesenkten Blick spendet seit Jahrhunderten Trost. In Krisen, Kriegen, Seuchen oder bitterer Armut – ihr Name ist der erste, den man ruft. Ihr Kult hat Herrscher, Zeiten, Moden überlebt. Denn in ihrer Geschichte – jener einer Frau, die Macht gegen Stille tauschte – erkennt Palermo sich selbst wieder.

Ohne Rosalia wäre Palermo eine andere Stadt. Mit ihr ist es ein Ort, der weiß, wie man neu beginnt, wie man hofft, wie man glaubt. Sie ist nicht nur die Heilige, die einst die Stadt rettete. Sie ist die, die sie noch immer rettet – jedes Jahr, jede Nacht, bei jedem Gebet.

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