Avola drängt sich nicht auf – es offenbart sich, leise und behutsam. Wer aus dem Süden kommt, entdeckt die Stadt plötzlich: eine regelmäßige sechseckige Struktur, fast wie ein geometrisches Siegel auf der Küstenebene. Dieses Muster ist kein Zufall, sondern Ergebnis eines bewussten Neuanfangs. Nach dem verheerenden Erdbeben von 1693 wurde die mittelalterliche Stadt Avola auf dem Monte Aquilone zerstört. Nur Ruinen blieben zurück. Daraufhin beschloss man, die Stadt in der Ebene, näher am Meer, neu zu errichten – nach einem modernen, offenen Plan des jesuitischen Architekten Angelo Italia. Eine neue Stadt, gewiss, aber tief verwurzelt in der Erinnerung an die alte.
Beim Spaziergang durch die Straßen wird diese doppelte Identität spürbar: Die Ordnung der Plätze und Alleen spiegelt einen zivilen Idealismus wider, während Steine, Fassaden und Namen von einer viel älteren Vergangenheit erzählen. Die Mutterkirche San Sebastiano, barockes Herz der Stadt, steht an der Kreuzung der Hauptachsen. Ihre monumentale, dreigeschossige Fassade mit breiter Freitreppe symbolisiert den Wiederaufbau. Der Bau begann 1702 und wurde im Laufe des folgenden Jahrhunderts vollendet. Im Inneren erwarten den Besucher Werke aus dem 18. und 19. Jahrhundert – stille Zeugen einer kollektiven Kraft zur Erneuerung.
Doch Avolas historische Seele reicht über den Barock hinaus. Nur wenige Kilometer landeinwärts liegt Avola Antica, der ursprüngliche Siedlungsort, heute eingebettet in eine stille, grüne Landschaft. Architektonisch ist wenig erhalten, aber die Atmosphäre vermittelt ein Gefühl von Zeitlosigkeit. Zwischen den Felsen der Hochebene befindet sich die berühmte Felsnekropole von Cassibile – etwa 2.000 in Stein gehauene Gräber aus der Bronzezeit. Das Naturschutzgebiet Cavagrande del Cassibile, das diesen spektakulären Ort schützt, ist ein natürliches Amphitheater aus Schluchten, Stille und kristallklarem Wasser. Die gut ausgeschilderten Wanderwege erfordern festes Schuhwerk und etwas Kondition, doch wer sie meistert, wird mit versteckten Naturpools und eindrucksvollen Ausblicken belohnt.
Archäologisch Interessierte sollten den Dolmen von Borgellusa nicht verpassen – ein seltener Beleg prähistorischer Megalith-Architektur auf Sizilien. In den 1960er-Jahren entdeckt, stammt er aus der Jungsteinzeit und könnte auf Kontakte zwischen Sizilien und anderen mediterranen Kulturen hinweisen. Der Dolmen liegt am Stadtrand, einfach zugänglich, von Wildkräutern und Kaktusfeigen umgeben – ein bescheidener, doch kraftvoller Ort, der Urgeschichte spürbar macht.
Avola ist aber auch ein Fest für die Sinne. Die „Pizzuta d’Avola“-Mandel, durch eine geschützte geografische Angabe ausgezeichnet, ist ein Spitzenprodukt der Region. Sie verfeinert traditionelle Süßspeisen, edle Pralinen und den typischen sizilianischen Mandeltrunk. In den Sommermonaten ist sie als cremiges Granita ein unvergessliches Erlebnis. Auf der Weinkarte steht der Nero d’Avola, eine rote Rebsorte, die ihren Namen von der Stadt trägt. Seit der Antike hier kultiviert, gedeiht sie besonders gut im ibleischen Terroir. Zahlreiche Weingüter laden zu Verkostungen ein, manche bieten Führungen nach Voranmeldung an.
In den warmen Monaten zieht es Avola ans Meer. Die Küste ist authentisch geblieben – mit freien Stränden, ausgestatteten Badezonen und ruhigen Buchten. Der Lido di Avola ist der beliebteste Strand: feiner Sand, flaches Wasser, familienfreundlich. Weiter südlich zeigt sich der Strand von Gallina naturbelassener, mit Felsen, Pinien und türkisfarbenem Meer. Nördlich liegt das ehemalige Fischerdorf Calabernardo – heute ein ruhiger Ort für Sonnenuntergänge und Spaziergänge. Jedes Jahr werden Avolas Strände für ihre Wasserqualität und Infrastruktur ausgezeichnet.
Dank seiner Lage ist Avola auch idealer Ausgangspunkt für Entdeckungen im Südosten Siziliens. Noto, barockes Weltkulturerbe, liegt nur 8 km entfernt. Syrakus erreicht man in weniger als 30 Minuten. Doch auch wer in Avola bleibt, findet reichlich zu erkunden: Weintouren, ländliche Archäologie, Naturpfade, religiöse Stätten. Ein neues Mandelmuseum, derzeit in Renovierung, wird das kulturelle Angebot bald erweitern.
Und die Gastfreundschaft? Herzlich und vielfältig: charmante B&Bs in alten Adelspalästen, familiär geführte Pensionen, typische Restaurants mit ibleischer Küche. Zu empfehlen: Pasta mit „tenerumi“ (jungen Zucchiniblättern), Schwertfisch alla ghiotta und Mandelgebäck. Beste Reisezeiten: April, Mai, September, Oktober – mildes Klima, sanftes Licht und entspannte Atmosphäre.
Avola entzieht sich einfachen Kategorien. Sie ist historisch und maritim, landwirtschaftlich und gebildet, barock und wild. Ein Ort, an dem sich die Zeit nicht einfach vollzieht, sondern schichtet. Für den aufmerksamen Reisenden bietet sie keine Liste von Sehenswürdigkeiten, sondern ein Lebensgefühl. Avola ist kein Ort zum Abhaken – sie ist eine Geschichte, in der man wohnt.